Der Geschmack der Geschichte: eine gastronomische und landwirtschaftliche Reise durch das Tessin

Die Geschichte der Ernährung im Tessin ist geprägt von harter Arbeit und Einfallsreichtum. Seit Jahrhunderten bedeutet Landwirtschaft hier, die Berge zu bezwingen. Kartoffeln, Rüben, Gerste, dann Mais und Wein: Jede Kulturpflanze ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen Natur und Willenskraft.

Die Täler erzählen eine stille Geschichte des Widerstands, in der Hunger lange Zeit der eigentliche Regisseur der Gerichte war. Und doch entsteht gerade hier, in diesem von Sparsamkeit geprägten Umfeld, eine Küche, die heute ihren Wert behauptet: nachhaltig, verwurzelt, bewusst, stolz, authentisch; eine Küche, deren Zutaten (und Orte) Spitzenprodukte sind, die Geschichten und Traditionen aus längst vergangenen Zeiten erzählen.

Ein Boden voller Herausforderungen: Der landwirtschaftliche Erfindungsreichtum im Tessin

Täler wie das Maggiatal und das Verzascatal sind noch heute von dieser bäuerlichen Arbeitsarchitektur geprägt: Kartoffeln, Rüben, Getreide, Kastanien und – an den sonnigsten Stellen – Weinreben. Die raue Geografie hat gelehrt, jeden Zentimeter verfügbaren Bodens zu nutzen und so Not in Weisheit zu verwandeln.

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Täler wie das Maggiatal und das Verzascatal sind noch heute von dieser bäuerlichen Arbeitsarchitektur geprägt: Kartoffeln, Rüben, Getreide, Kastanien und – an den sonnigsten Stellen – Weinreben. Die raue Geografie hat gelehrt, jeden Zentimeter verfügbaren Bodens zu nutzen und so Not in Weisheit zu verwandeln.

Dennoch war das Tessin nie nur ein Land der Mühsal. An wichtigen Verkehrswegen zwischen Nord- und Südeuropa gelegen, war es jahrhundertelang ein Knotenpunkt für Waren, Menschen, Sprachen und Rezepte. Ein Ort, an dem sich das bäuerliche Leben mit der Kultur der Gastfreundschaft verband, mit der Notwendigkeit, Reisende, Händler und Pilger aufzunehmen und zu verköstigen. Diese doppelte Natur – rau und zugleich grosszügig, verschlossen aber doch offen – hat im Laufe der Zeit eine einzigartige gastronomische Identität geprägt, die aus tiefen Wurzeln und subtilen Einflüssen besteht.

Maestro Martino und die Tessiner Wurzeln der modernen Gastronomie

In diesem Zusammenhang entstand im 15. Jahrhundert eine Persönlichkeit, die die europäische Küche und nicht nur diese revolutionieren sollte. Martino de’ Rossi, besser bekannt als Maestro Martino, stammte aus dem Bleniotal und war ein Koch von aussergewöhnlichem Können in einer der Hospitalküchen entlang der Lucomagno-Route, einer der meistbefahrenen Strassen des mittelalterlichen Europas.

Martino verliess das Tessin (damals unter der Herrschaft des Herzogtums Mailand) und gelangte in die Küchen der vornehmsten und bedeutendsten Kreise seiner Zeit (von den Höfen der Sforza in Mailand bis zu den prunkvollen päpstlichen Kreisen) und ging als «Prinz der Köche» der Renaissance in die Geschichte ein. Er war der Erste, der die Kochkunst in eine zugängliche gastronomische Kultur verwandelte.

Martino ordnete die Rezepte, schrieb sie auf und kodifizierte sie, damit sie für alle verständlich wurden. Er verzichtete auf exotische Gewürze, die in der mittelalterlichen Küche so beliebt waren, und gab den lokalen Zutaten, Kräutern und Gemüsesorten, die als «arm» galten, wieder ihren Wert zurück.

Man kann sagen, dass Maestro Martino jene Philosophie verkörperte, die Slow Food heute weltweit fördert: Respekt vor der Saison, Verwendung regionaler Produkte und kurzer Lieferketten, authentische Einfachheit als Form der Exzellenz zum Schutz des ökologischen und kulturellen Erbes. Seine kulinarische Philosophie war das Ergebnis einer schwierigen Landschaft, aber auch einer Welt im Dialog.

Dieser Geist des Dialogs zwischen Erinnerung und Territorium lebt auch heute noch weiter. Man findet ihn in den Trockenmauern der Terrassen, in der natürlichen Architektur der Grotten, in den Kastanienwäldern, in den Gemüsegärten und in den Weinreben, die die Täler mit ihrer reichen Artenvielfalt säumen. Das Essen im Tessin erzählt eine Geschichte, heisst willkommen, ist das Ergebnis von Mühe und Ausdruck von gelebter Gemeinschaft.

Über den Wein hinaus: Geschichte der Protagonisten der Tessiner Küche

Die gastronomische Geschichte des Tessins ist eine faszinierende Verflechtung von Notwendigkeit und Einfallsreichtum, in der jedes Produkt von Jahrhunderten der Anpassung und Kreativität zeugt. Beginnen wir mit dem Käse und starten wir unsere Reise durch die Aromen, die die kulinarische Identität der Region prägen.

Nach der Pest im 14. Jahrhundert erlebten die Felder im Tessin einen bedeutenden Wandel. Viele Ackerflächen wurden in Weideland umgewandelt, wodurch eine blühende Käsetradition entstand. Käse wurde nicht nur zu einer wichtigen wirtschaftlichen Ressource, sondern auch zu einem echten kulturellen Symbol. Es entstanden Alpkäsereien, kulinarische Zentren inmitten der Berggipfel. Heute sind diese kräftigen Alpkäse, die aus Rohmilch hergestellt und in den Bergen gereift werden, das Symbol einer Kultur, die Landschaft, Arbeit und authentischen Geschmack vereint. Hier ist Käse ein echtes Identitätsmerkmal.

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Slow Food Presidio: Zincarlìn aus dem Mücc-Tal (Muggiotal)
Der Zincarlìn ist ein traditioneller Käse, der im Grenzgebiet zwischen dem Kanton Tessin und der Lombardei, zwischen dem Luganer See und dem Comer See, hergestellt wird. Die Version des Presidio wird auf der Schweizer Seite des Monte Generoso im Kanton Tessin hergestellt. Es handelt sich um einen Rohmilchkäse, der hauptsächlich aus roher Kuhmilch hergestellt wird, manchmal unter Zugabe von Ziegenmilch. Die Form erinnert an eine umgedrehte Tasse und wiegt frisch zwischen 200 und 400 Gramm.

Der Herstellungsprozess umfasst eine 24-stündige Milchsäure-Lab-Koagulation, gefolgt von einem mindestens eintägigen Abtropfen in einem Tuch. Der Teig wird dann mit Salz und Pfeffer vermischt und von Hand geformt. Die Mindestreifungszeit beträgt zwei Monate und erfolgt in halbunterirdischen Kellern auf dem Monte Generoso. Während dieser Zeit wird der Käse mit Weisswein und Salz behandelt, um unerwünschten Schimmelbefall zu verhindern. Mit der Reifung entwickelt der Zincarlìn eine gelb-rötliche Rinde und einen weichen Teig und gewinnt an aromatischer Komplexität.

Die Rinderzucht war jedoch nicht die einzige Tierhaltung, die eine zentrale Rolle in der Wirtschaft und Gastronomie des Tessins spielte. Eine weitere wichtige Rolle in der lokalen Küche spielten Ziegen, die einst als Kühe der Armen galten. Dokumente aus den 1950er Jahren beschreiben die Dörfer der Täler um Locarno als «von Ziegen überrannt: Die Tiere waren überall, sogar auf den Dächern der Häuser». In fast allen Familien wurde im November die sogenannte mazza minore organisiert, also die Schlachtung der Ziegen für die Herstellung der Cicitt, heute ein Slow Food Presidio.

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Slow Food Presidio: Die Cicitt der Täler von Locarno
Cicitt sind lange, dünne Würste, die im Herbst aus dem Fleisch, Fett und Herz von Ziegen hergestellt und in den Darm der Tiere gefüllt werden. Sie sind dunkelbraun und werden über dem Feuer gebraten gegessen. Sie haben einen intensiven Geruch nach Ziege, Gewürzen und Rauch. Es wird angenommen, dass die Cicitt aus Cavergno stammen, einem kleinen Dorf im oberen Maggiatal. Hier gibt es noch zwei der wenigen verbliebenen Hersteller.

Käse und Ziegenfleisch sind jedoch nur der Anfang der reichhaltigen Tessiner Gastronomie. Eine weitere Grundzutat der Bergernährung war die Kastanie, die bis zum Aufkommen des Maises als «Brot der Armen» bezeichnet wurde. 

Getrocknet in den Graa – rustikalen Steintrocknern, in denen die Herbsternte gelagert wurde – und gemahlen, entstand ein vielseitiges, nahrhaftes und haltbares Mehl, das für die Überwindung der strengen Alpenwinter unverzichtbar war. Noch heute sind die jahrhundertealten Kastanienhaine stille Zeugen einer Geschichte des Überlebens und kulinarischen Einfallsreichtums, ebenso wie die Graa, die in den kleinen Dörfern im Tal noch immer als Orte des Austauschs und der Weitergabe von Traditionen an die neuen Generationen genutzt werden.

Im 18. Jahrhundert kam dann Mais aus Amerika, eine Kulturpflanze, die die Felder und Kochtöpfe des Tessins eroberte und einen epochalen Wandel einläutete. Jahrhundertelang war Polenta einfach nur das Essen schlechthin. Begleitet, wenn es gut lief, von einfachen Dingen wie Ziegenfleisch oder einem Stück Käse, wurde dieses Gericht zu einer Säule der Tessiner Ernährung und ergänzte oder ersetzte die Kastanien. Bevor sie gelb wurde, war die Polenta nämlich grau und wurde aus Kastanienmehl oder anderen kleineren Getreidesorten hergestellt.

Die Verbreitung von Polenta und damit von Mais veränderte nicht nur die Ernährungsgewohnheiten, sondern auch die Agrarlandschaft, da neue Mühlen und Terrassen für den Anbau entstanden.

Dieser Geist des Dialogs zwischen Erinnerung und Territorium lebt auch heute noch weiter. Man findet ihn in den Trockenmauern der Terrassen, in der natürlichen Architektur der typischen Grotten, in den Kastanienwäldern, in den von den lokalen Bauern bewirtschafteten Feldern, in den Blumen, aus denen duftender Honig gewonnen wird, in der Rückkehr der handwerklichen Brauereien, die im Tessin Ende des 19. Jahrhunderts mit der Eröffnung des Gotthard-Tunnels weit verbreitet waren und heute neu erfunden werden, und in den Weinreben, die die Täler mit ihrer reichen Artenvielfalt säumen.

Das Erbe dieser Region ist lebendig und entwickelt sich dank der neuen Generationen, die ihrer Heimat sehr verbunden sind, weiter, wobei sie ihre Wurzeln in der reichen gastronomischen Kultur dieses Alpenlandes fest verankert halten.

Das Essen im Tessin erzählt eine Geschichte, heisst willkommen, ist das Ergebnis von Mühe und Ausdruck von gelebter Gemeinschaft.

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